Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation |
"Die gesamte Gesellschaft opfert immer mehr Zeit für einen Verkehr, der es ihr angeblich ermöglichen soll, Zeit zu sparen" (Ivan Illich, 1975).
"Schmeicheln wir uns nicht so sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns" (Friedrich Engels).
Probleme:
Antibiotika machen Bakterien resistent. Direkte Nahrungsmittelhilfe ruiniert Volkswirtschaften (Übervölkerung, kaputte Landwirtschaft). Großangelegte Bewässerungsvorhaben führten zur Verbreitung der Bilharziose, der heute am weitesten verbreiteten Tropenkrankheit (Blindheit, 200 Mio. Betroffene in der 3. Welt). Weitere Beispiele: Die Politik der hohen Schornsteine; fehlende Fressfeinde (Kaninchen in Australien; Waschbär in Deutschland). Unsere Umwelt ist ein vernetztes System. Sie ist so kompliziert, dass wir die Konsequenzen unseres Tuns nie vollkommen übersehen können. Gutgemeinte Taten können fürchterliche Rückschläge zur Folge haben.Ziel: Nachhaltigkeit (Sustainability) bei der Nutzung der Ökosysteme.
Methode: Simulation eines Räuber-Beute-Systems auf der Basis der Lotka-Volterra-Gleichungen (Prototyp für ein vernetztes Ökosystem).
N
1 steht für den Bestand der Räuberpopulation und N2 für den Bestand der Beutepopulation. Angenommen sei, dass die Geburtenrate der Räuberpopulation proportional zum Bestand der Beute ist. Mit der Proportionalitätskonstanten B1 für die Geburtenrate und mit der Konstanten D1 für die Sterberate der Räuberpopulation setzt man das Wachstumsgesetz der Räuber in der FormdN
1/dt = (B1 N2 - D1) N1an. Das ist die erste der sogenannten Lotka-Volterra-Gleichungen. Mit der Geburtenrate B
2 der Beutepopulation und der Proportionalitätskonstanten D2, die die Abhängigkeit der Sterberate der Beutepopulation von der Anzahl der Räuber vermittelt, nimmt das Wachstumsgesetz der Beutepopulation die Form der zweiten Lotka-Volterra-Gleichung an:dN
2/dt = (B2 - D2N1) N2Die Parameter der Lotka-Volterra-Gleichungen werden folgendermaßen festgelegt:
B
1 = 15/(106 a)D
1 = 0,6/JahrB
2 = 0,6/JahrD
2 = 300/(106 a)Die Parameter des Modells sind so gewählt worden, dass in etwa die Populationszyklen wiedergegeben werden, wie sie in dem vieldiskutierten System auftreten, das vom Luchs und seiner Hauptbeute, dem Schneehasen, gebildet wird
(Wilson, Bossert, 1973).
Gleichgewichtswerte (dN
1/dt = dN2/dt = 0):N
1 = B2/D2 = 2 000N
2 = D1/B1 = 40 000
Für die Beute führen wir eine Kapazitätsbeschränkung ein
dN
2/dt = (B2 (K-N2)/K - D2N1) N2Der Räuber wird bewirtschaftet
dN
1/dt = (B1N2 - D1) N1 - EHierin bezeichnet E die Ernte- bzw. Jagdrate. Die Simulation zeigt, dass die Kapazitätsbeschränkung (beispielsweise K = 100 000) das System stabilisiert: Es erreicht von selbst seinen Gleichgewichtspunkt.
Das folgende Bild zeigt diesen Effekt im Zustandsdiagramm. (Ein Zustandsdiagramm zeigt die Abhängigkeiten der Zustandsvariablen - das sind hier die Populationsgrößen - voneinander.)
Wählt man das bestandsabhängige Jagen nach der Strategie E = PN
1, so bewirkt das nur eine Erhöhung der Sterberate der Räuberpopulation um den Wert P. Das System bleibt stabil. Für den auf Dauer erreichbaren Höchstertrag reicht es folglich aus, das Maximum des Gleichgewichtswertes PN1 zu berechnen. Das Optimum wird für P = (B1K-D1)/2 = 45% je Jahr erreicht.
1.
Das Räuber-Beute-System: Erstellen Sie ein Arbeitsblatt STRUGGLE.xls zur Simulation des Räuber-Beute-Systems mit der Methode der Zinseszinsrechnung. Führen Sie Berechnungsexperimente durch. Zur Überprüfung des Ergebnisses: Im reinen Räuber-Beute-System ergeben sich periodische Schwingungen für Räuber- und Beutepopulation.2. (anspruchsvoll): Die Simulation nach der Methode der Zinseszinsrechnung (fachmännisch: "mit dem Verfahren nach Euler-Cauchy") muss zur Erreichung der notwendigen Genauigkeit eine sehr kleine Schrittweite h gewählt werden. Wenn dennoch mit der Simulation ein hinreichend großer Zeitbereich erfasst werden soll (wenigstens eine Schwingungsperiode), wird die Ablauftabelle sehr lang. Besser ist es hier, zu effizienteren Verfahren der Integration der Differentialgleichungen (Lotka-Volterra-Gleichungen) überzugehen. Geeignete Verfahren findet man in der Literatur zur numerischen Mathematik. Nicht zu kompliziert und für die Tabellenkalkulation bestens geeignet ist das Verfahren von Heun - ein Einschrittverfahren, das auf der Trapezregel basiert
(Stoer/Bulirsch, 1990).3. Schädlingsbekämpfung: Zeigen Sie mittels Simulation den Effekt, der folgendermaßen beschrieben wird: "Zum Beispiel ist Entomologen aufgefallen, dass bei der Schädlingsbekämpfung durch Besprühen mit Insektiziden die Population des Schädlings häufig zwar abnimmt, aber nur um dann sprunghaft noch höher als zuvor anzusteigen. Dieses Phänomen ließ sich auf die Mitvernichtung der natürlichen Räuber und Parasiten der Schädlingsart zurückführen. Im Einklang mit dem Volterra-Prinzip sind diese nützlichen Insekten nicht in der Lage, sich so schnell zu erholen wie die Populationen, von denen sie leben"
(Wilson/Bossert, 1973, S. 126 f.).4. Zeichnen Sie die Nullwachstumskurven in die Zustandsdiagramme ein. Nullwachstumskurven sind die geometrischen Örter im Zustandsdiagramm, für die dN
1/dt=0 bzw. dN2/dt=0 ist.5. Stellen Sie fest, für welchen Wert der Kapazitätsbeschränkung das Räuber-Beute-System gerade aufhört zu schwingen (aperiodischer Grenzfall).
6. (anspruchsvoll): Leiten Sie den aperiodischen Grenzfall für das linearisierte System her.
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Beddington, J. R.; May, R. M.: Die Nutzung mariner Ökosysteme. Spektrum d. Wiss. (1983) 1, 104-112. Der auf Dauer haltbare Höchstertrag.
Bergerud, A. T.: Die Populationsdynamik von Räuber und Beute. Spektr. d. Wiss. (1984) 2, 48-54
Grams, T.: Simulation. BI Mannheim 1992. Anhand des Räuber-Beute-Systems werden einfache analytische Methoden der Modellvalidierung demonstriert, beisielsweise die Linearisierung im Gleichgewichtspunkt (S. 75-79.
Illich, I.: Selbstbegrenzung. Rowohlt, Hamburg 1975
Peschel, M.; Mende, W.: The Predator-Prey Model. Do We Live in a Volterra World? Akademie Verlag/Springer Verlag, Berlin 1986
Rolf, A.; Möller, A.: Sustainable Development: Gestaltungsaufgabe für die Informatik. Informatik-Spektrum 19 (1996) 4, 206-213
Stoer, J.; Bulirsch, R.: Numerische Mathematik 2. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg 1990. S. 113-118. Anfangswertprobleme, Einschrittverfahren, lokaler Diskretisierungsfehler
Vester, F.: Ballungsgebiete in der Krise. DVA, Stuttgart 1976
Wilson, E. O.; Bossert, W. H.: Einführung in die Populationsbiologie. Springer, Berlin, Heidelberg 1973
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© Timm Grams, 6.7.1999